5. Mythos: Migrant:innen sind an allem schuld
„Kaum ein anderer Forschungsgegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaften ist so sehr von Werten – im Sinne von Bewertungen – und normativen Urteilen bestimmt wie Migration“, stellt der Wissenschaftler Andreas Niederberger[1] fest. Gesellschaftliche Konflikte und die durch sie ausgelösten Aushandlungsprozesse werden in Politik, Wissenschaft und gesellschaftlichen Debatten häufig als Probleme von Migrant:innen verstanden und wahrgenommen. Dabei geht es um gesellschaftliche Veränderungen und neue soziale Realitäten, die alle Bürger*innen betreffen.
In den letzten Jahren hat sich zunehmend die Sichtweise durchgesetzt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Auch wenn dies nicht konfliktfrei geschieht, wie die gleichzeitige Zunahme rechtsextremer und rassistischer Strömungen zeigt, ist insgesamt eine recht hohe Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung zu verzeichnen, eine Vielfalt von Lebensformen, Identitäten und Werten als normal anzuerkennen[2].
Hein de Haas fasst in seinem Buch[3] den Mythos „Migrant:innen sind an allem schuld“ mit folgenden Aussagen zusammen:
– Menschenmassen strömen in die Städte und ins Ausland und sprengen dort alle Aufnahmekapazitäten
– Staaten scheinen zunehmend überfordert mit dem anschwellenden Strom von Migrant:inneen und Geflüchteten, die in den reichen Westen gelangen wollen
– kostspielige Kampagnen, um Menschen von der Migration abzuhalten (zwischen 2015 und 2019 wurden in Europa 130 Kampagnen mit einem Budget von 45 Millionen Euro finanziert)
– Migrant:innen verschärfen soziale und gesellschaftliche Probleme
Gleichzeitig formuliert er in demselben Buch eine Hauptthese, die als Gegenargument zu diesem Mythos dienen könnte. Er zitiert das UNHCR, das von einer „globalen Krise der Vertreibung“ spricht, und erklärt, dass immer mehr Menschen aufgrund von Konflikten, Gewalt und Klimawandel gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Das hieße im Umkehrschluss: Statt Menschen von der Migration abzuhalten, müssten die globalen Herausforderungen, die Menschen zur Migration zwingen, angegangen und zu lösen versucht werden. Das würde zum Beispiel bedeuten, eine bessere und koordinierte Klimapolitik zu verfolgen und weltweit zu etablieren. Eine zukunftsorientierte und nachhaltige Bearbeitung der gewaltigen Konflikte, die den Menschen eine Alternative bieten, um ihre Heimat nicht verlassen zu müssen. Medien und Politik spielen gerne mit dem Bild des überfüllten Bootes und lassen dabei andere Faktoren außer Acht. Das weltweite Bevölkerungswachstum erfordert z.B. Maßnahmen, um Antworten auf Fragen der Mobilität, der Ernährungssicherheit und vieles mehr zu finden. Fragen, die sich Menschen auf der ganzen Welt stellen.
In der Auseinandersetzung mit Migration braucht die Gesellschaft empirische Daten, die intersektionale und transnationale Verflechtungen berücksichtigen. Denn die Situation ist komplexer, als sie oft dargestellt wird.
[1] Niederberger, Andreas (2021): Migrationsethik in der Krise. Einige grundlegende philosophische Überlegungen. Zeitschrift für Migrationsforschung – Journal of Migration Research 2021 1 (1): 97–123
[2] Zick, Andreas, und Nora Rebekka Krott (2021): Einstellungen zur Integration in der deutschen Bevölkerung von 2014 bis 2020. Studienbericht der vierten Erhebung im Projekt Zugleich – Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit. IKG – Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Bielefeld
[3] Hein de Haas (2024): Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. Frankfurt am Main