6. Mythos: Zuwanderung ist eine Gefahr für den Sozialstaat
„Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine“.
Das sagte Friedrich Merz von der CDU bei einem Interview mit „Bild-TV“ am 26. September 2022 und entfachte damit eine öffentliche Debatte, die auf Fehlannahmen basiert. Die Vorstellung, dass Menschen hauptsächlich nach Deutschland migrieren, um von Sozialleistungen zu profitieren, ist ein Mythos. Denn es gibt keinerlei belastbaren Belege für die Behauptung von Merz, dass Zuwanderung eine Bedrohung für den Sozialstaat darstelle.
Immer wieder wird in öffentlichen Diskussionen von dem Sozialsystem als sogenannter Pull-Faktor gesprochen, womit gemeint ist, dass Migrant*innen nach Deutschland wegen dem Sozialsystem einwandern. Doch diese These des Sozialstaats als entscheidender Pull-Faktor für Migration gilt für Wissenschaftler*innen schon seit Jahrzehnten als überholt. In Wirklichkeit ist die Höhe von Sozialleistungen nicht entscheidend für Migrationsbewegungen[1]. Zu dem gleichen Ergebnis kommt eine Studie, die zeigt, dass Migrant*innen und vor allem Geflüchtete keinesfalls die Sozialsysteme missbrauchen und diese Annahme unbegründet sei[2].
Fakt ist nämlich, dass Asylsuchende in Deutschland deutlich weniger Unterstützung als Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft erhalten. Während Alleinstehende im Bürgergeldbezug 563 Euro monatlich bekommen[3], haben Asylbewerber*innen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nur Anspruch auf maximal 460 Euro[4]. Mit dieser überaus geringen Leistung soll die Grundversorgung gewährleistet werden. Auch die medizinische Versorgung ist für Asylsuchende eingeschränkt.
Die Annahme, dass sie für die sehr geringen Sozialleistungen nach Deutschland flüchten, macht mit Blick auf die lebensgefährlichen Fluchtwege wenig Sinn. Zahlreiche Geflüchtete sind im Mittelmeer schon ertrunken, weil sie vor den verheerenden Folgen von Krieg, Gewalt und Terror Schutz suchten.
Bei der polemischen Debatte wird gänzlich außer Acht gelassen, dass die Mehrheit der Asylsuchenden in Deutschland nach einigen Jahren einer geregelten Arbeit nachgeht. Eine Studie von 2023 zeigt, dass 54 % der Asylsuchenden[5], die seit sechs Jahren in Deutschland leben, erwerbstätig sind, und viele von ihnen in Vollzeit arbeiten. Sie zahlen Steuern sowie Sozialabgaben, tragen zur Rentenversicherung bei und entlasten somit den Sozialstaat. Gerade angesichts des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels profitiert Deutschland von den Beiträgen dieser Menschen.
Generell zeigt sich, dass alle Menschen mit Migrationsgeschichte mehr in die Sozialsysteme einzahlen, als sie entnehmen. Besonders junge Menschen mit Migrationsgeschichte stabilisieren die Renten- und Sozialversicherungssysteme, da sie häufig erwerbstätig sind und überproportional Beiträge leisten. So trägt Zuwanderung nicht nur dazu bei, die Bevölkerungsentwicklung auszugleichen, sondern wirkt sich auch ökonomisch positiv auf den Sozialstaat aus. Die Vorstellung, Zuwanderung würde die sozialen Sicherungssysteme überfordern, entbehrt jeder fundierten Grundlage. Stattdessen ist Zuwanderung ein wichtiger Baustein zur langfristigen Sicherung der sozialen Stabilität und des Wohlstands in Deutschland.
[1] Deutscher Bundestag (2024): Experten kritisieren These von Pull-Faktoren: https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-997282 (zuletzt aufgerufen am 21.10.2024)
[2] Corrado Giulietti, Jackline Wahba (2013): Welfare Migration, S. 15 (zuletzt aufgerufen am 21.10.2024)
[3] Bundesarbeitsmnisterium (2024): Leistungen und Bedarfe im Bürgergeld: https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Grundsicherung-Buergergeld/Leistungen-und-Bedarfe-im-Buergergeld/leistungen-und-bedarfe-im-buergergeld.html (zuletzt aufgerufen am 21.10.2024)
[4] Asylbewerberleistunggesetz (o.D.) https://www.gesetze-im-internet.de/asylblg/BJNR107410993.html (zuletzt aufgerufen am 21.10.2024)
[5] Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2023): Erwerbstätigkeit und Löhne von Geflüchteten steigen deutlich: https://doku.iab.de/kurzber/2023/kb2023-13.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.10.2024)